Über das Dösen Was ist dösen? Es ist bemerkenswert, wie eine solche, auf den ersten
Blick ganz harmlos erscheinende Frage, den Verstand verwirren kann.
Obwohl wir den Gebrauch des Wortes dösen beherrschen, können
wir die Frage nach dem Begriff des Dösens nicht beantworten, statt
dessen geraten wir in den philosophischen Zustand, in den Augustinus
verfallen ist, als er sich fragte, was Zeit sei. Wer sich von der Schlafforschung
Hilfe erhofft, weicht der philosophischen Frage aus, denn der Schlafforscher
gibt nur eine mögliche Erklärung. Wenn er Naturwissenschaftler
ist, wird es eine naturwissenschaftliche sein, aber er wird dann andere
Erklärungen, zum Beispiel eine psychologische, gar nicht in Betracht
ziehen. Oder er wird die esoterische Option, wonach sich ein Dösender
kreativen Energien öffnen könnte, nicht einmal als Erklärungsmöglichkeit
anerkennen. Die Frage nach dem Begriff geht einer bestimmten Erklärung
voraus. Ein verläßliches Anzeichen dafür, dass man sich
mit einer solchen vorausliegenden Frage beschäftigt, ist das Gefühl
zunehmender Verunsicherung, das sich einstellt, sobald man den Normalzustand
in den philosophischen umkippen läßt. Unter normalen Umständen
haben wir keine Schwierigkeiten, die Äußerung "Ich habe ein
wenig gedöst." zu verstehen, erst wenn einer fragt: "Was genau
meinst du mit dösen?", dann sind wir bald vollständig verunsichert.
(Am Ende fragen wir doch noch den Schlafforscher, um uns an einer bestimmten
Erklärung zu beruhigen.) Allem Anschein nach bezieht sich dösen
auf einen ganz bestimmten Zustand, in dem sich jemand befindet, der
fast schläft. Die nahe liegende Strategie ist daher, den Zustand
des Dösens zu bestimmen, indem man ihn von ähnlichen Zuständen
abgrenzt, allererst vom Schlafen und darüber hinaus vom Träumen
oder vom Dämmern. So ist der Dösende um einen gewissen Grad
aufmerksamer als der Schlafende, andererseits ist er im Vergleich zum
Träumenden im Geiste vollkommen leer, wenn er wieder bei Bewußtsein
ist, wird er sich an nichts erinnern können. Dabei unterscheidet
ihn die Möglichkeit, wieder in den Bewußtseinszustand zurückzukehren,
vom Dämmernden, der seinen Geist weitestgehend verloren hat. Dösen
könnte als eine Art temporäres Dämmern definiert werden.
Es ist eine zeitweilige Geistlosigkeit in einem wachen Körper.
Wenn wir jedoch behaupten, der Dösende sei gedankenlos, dann könnte
jemand mit der provozierenden Frage dagegen halten, ob Tiere, wenn sie
einmal nicht dösen, Gedanken hätten. Tatsächlich würden
wir von einem, der vollkommen gedankenlos gehandelt hat, nicht sagen,
er hätte gedöst. Der typische Dösende denkt nicht und
handelt nicht, man könnte sagen, dass er unverschämt untätig
ist. Demgegenüber ist Schlafen eine ordentliche Untätigkeit,
weil sie unsere Tatkraft jedesmal erneuert. Mit dem Begriff des Dösens
scheint nun weniger eine Beschreibung, als vielmehr eine Beurteilung
verbunden zu sein, und zwar eine deutlich negative. Mit dem Wort dösen
wird ein Zustand, ob man diesen im einzelnen genauer beschreiben
kann oder nicht, üblicherweise abgewertet. Daher findet man in
einer Zeitung den Satz: "Denn anders als strengere Klassiker hat Proust
nichts gegen Dösen und Dämmern." Da erhält die wertende
Verwendungsweise des Wortes dösen eine positive Auslegung,
in der ein Dösender, gerade weil ihn nicht planvolles und konzentriertes
Denken gefangen nimmt, von sehr tiefen und weitreichenden Erkenntnissen
überrascht werden kann. Die Wortbedeutung im engeren Sinne stützt
diese erfreuliche Auslegung freilich nicht. Als das Adjektiv dösig
zu Beginn des 19. Jahrhunderts ins Hochdeutsche übernommen
wurde (das Verb dösen folgte etwas später nach), war
es von einem wenig schmeichelhaften Wortfeld umgeben: dumm, stumpfsinnig,
töricht, unwissend, blödsinnig, betäubt, verwirrt, nicht
klar im Kopf. Das Gegengewicht bildet bis heute das neutrale Wortfeld
mit halb schläfrig, benommen, gedankenlos. Auch das Wort Dusel,
das mit dösig verwandt ist, aber bereits im 16. Jahrhundert ins
Hochdeutsche aufgenommen wurde, bedeutet einerseits Taumel, Dämmerzustand,
Gedankenlosigkeit, und andererseits unverdientes Glück.
Letztere, so positive Belegung entstand vermutlich erst im 19. Jahrhundert.
Wenn einen Dusel haben nicht das schlechteste ist, und einem das Dösen
tiefe Einsichten bringen kann, dann ist es überraschend, dass man
eine Döserei besser meiden sollte. Die Gebrüder Grimm
jedenfalls umschrieben diesen Eintrag im Wörterbuch mit Betäubung,
Unverstand, Dummheit, Lässigkeit, Mangel an Witz und Munterkeit.
Es ist das eine, von jemandem zu sagen, er sei dösig, weil man
ihn für töricht hält, und etwas anderes, zu sagen, er
schaue ganz dösig drein, weil man glaubt, er sitzt gedankenlos
bloß so da. Nur in letzterem Fall sehen wir, dass einer döst.
Offenbar gibt es einen bestimmten Gesichtsausdruck zusammen mit einer
typischen Haltung, die uns veranlassen, von dösen zu sprechen.
Der Dösende ist körperlich reglos, abgesehen vielleicht von
einer monotonen Begleitbewegung wie einem wippenden Fuß, und er
ist geistig untätig, was wir ihm aus dem Gesicht lesen. Einer,
der gedankenverloren ganz unbeweglich immer auf dieselbe Stelle schaut,
hat einen anderen Ausdruck, als einer, der gedankenlos an einem heißen
Tag in einem dösigen bretonischen Dorf halb schlafend vor sich
hin stiert. Wiederum ist es außerordentlich schwierig, präzise
anzugeben, welche Merkmale einen dösigen Gesichtsausdruck kennzeichnen,
und demgegenüber ganz erstaunlich, mit welcher Sicherheit wir den
Dösenden erkennen, wenn man bedenkt, wie wenig wir über das
Dösen wissen. Gernot Grube |